Teil 1: Der Beginn
Um 1900 herrschte im Deutschen Reich ein reges geistiges Aufbruchsklima. Unter den allerorts sichtbaren Folgen der Industrialisierung und der damit verbundenen Verstädterung, begann es in weiten Teilen des deutschen Volkes zu gären. Viele neue Ideen entstanden, um langfristig ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Natur- und Tierschutz, Lebensreform (Reformkleidung, Vegetarismus, Rohköstler, Abstinenzler, Freikörperkultur, etc.), Reformpädagogik um nur einige Beispiele zu nennen, und die Jugendbewegung – der Wandervogel – nahmen hier ihren Anfang.
Von staatlicher Seite wurde dies alles geduldet, manches kritische betrachtet, manches wohlwollend. Es herrschte trotz einiger vorhandener bürgerlicher Kleinkariertheit eine geistig liberale, rege Aufbruchsstimmung.
Bei den ersten Wandervögeln handelte es sich um Gymnasiasten, die sich in Berlin um den nur wenig älteren Studenten Herrmann Hoffmann sammelten und gemeinsam in die Wälder und über die Dörfer wanderten, in Scheunen oder unter freiem Himmel übernachteten und ihr Essen auf dem Lagerfeuer zubereiteten. Diese Idee war im Vergleich zum Sonntagsspaziergang im Matrosenanzug mit Mama und Papa so revolutionär und anziehend, dass sich innerhalb kürzester Zeit im ganzen Reich ähnliche Gruppen bildeten. Und die bürgerlichen Eltern tolerierten und förderten dieses.
Auf ihren Wanderungen kamen die Jugendlichen mit der Landbevölkerung in Kontakt und lernten Volkslieder, Volkstänze und Trachten der unterschiedlichsten Regionen kennen. Sie erwanderten sich die Schönheiten der Natur ebenso wie die kulturelle Schönheit und Vielfalt ihrer Heimat, wenn sie Dörfer und kleine Städte durchstreiften.
Hierdurch inspiriert nahm die Bewegung sehr schnell viele musische und künstlerische Elemente auf und entwickelte ihren eigenen Wandervogel-Stil. Die bis heute wichtigste Sammlung deutscher Volkslieder, der „Zupfgeigenhansel“, wurde vom Wandervogel Hans Breuer zusammengetragen. Die Linoldrucke und Scherenschnitte aus den Wandervogel-Monatsheften prägten eine ganze Generation in ihrem ästhetischen Empfinden und wirken bis heute nach. Ein guter Teil der Volkstänze konnte bis heute durch die Initiative der Wandervögel überliefert werden.
Im Zusammenspiel mit den anderen bereits genannten Reformbewegungen entstand eine große Bewegung, die tief in die Gesellschaft hineinwirkte. Es entstanden die Jugendmusikbewegung, die Jugendherbergen, eine überall anzutreffende Kultur der Wander- und Fahrtenlieder, Reformschulen, Volkstanzkreise, Trachtenvereine und vieles mehr. Die meisten dieser Dinge wirkten bis in die 1960er Jahre hinein fort. Ohne die fatalen Brüche in der Geschichte wäre das deutsche Volk sicherlich heute noch tief von den Wirkungen der Jugendbewegung durchdrungen.